30 Tage

I

in den armen meiner mutter
vor dem nachtschlaf
tröstete mich
weil sie spürte
dass ich traurig war

entflog meinen gedanken
ein satz
der den weg ins freie fand
so wie es kindern manchmal gut gelingt
welche botschaft
es auch immer überbringt:

Ich bin traurig,
weil ich keine freunde habe

II

dieses gefühl
teils vergessen
teils liebevoll zugedeckt
von alltagssorgen
verschwand mit der zeit
war weg

als ich emporstieg aus dem kindlichen bewusstsein
reifte
da waren freunde da und feiern
alles war schön

III

doch eines tages
nach der blüte der jugend
als erwachsene vernunft deren leichtigkeit verdrängte

stellte ich fest
dass da etwas in mir war
ein gefühl, dass sich anschlich
auf ganz merkwürdige weise
zeigte
mein telefon kann 30 tage ruhen
und es klingelte nie
mit einer stimme eines freundes am andern ende

ich bin wieder traurig,
weil ich keine freunde habe

14.08.2022

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Der Ernst ist tot

Heute starb, verschmäht und wenig beachtet,
weggelächelt und als unangenehmer Zeitgenosse bekannt
im Kreise schlechter Gesellschaft
nach schwerer psychischer Krankheit

Ernst

Er hatte einen langen Leidensweg
trotz stattlichem Alters
vermochte er nie die Liebe zu erfahren
die es gebraucht hätte
um ihn unter Menschen als wichtiges Mitglied anzuerkennen

In Gedanken
Sein Bruder Humor,
seine Eltern Pessimist und Melancholie

Die Trauerfeier findet im engsten Kreise seiner Familie statt.

14.08.2022

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bitte korrigier mich
aber hältst du nicht meinen atem an
bist du nicht wunderschön?

bitte korrigier mich
aber fliegen mir nicht deine blicke zu
verstehen wir uns nicht

bitte korrigier mich
aber gibst du uns keine chance
zeigst du mir nicht deine zarte schulter?

bitte korrigier mich
ich weiß, es ist aussichtlos

21.01.2022

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kunst braucht nicht kunst
sie braucht das leben
wie eine brieftaube
die in eisschmerzender luft
gen blauen himmel steigt
bringt sie botschaften
in die kalten herzen
der menschen
löst darin
eine kettenreaktion aus
die sie schneller laufen lässt
kräftig kauen
tränen hinaus treibt
die erfrieren
auf der zarten gesichtshaut
steif wird
während es um das menschliche gehirn
furchtbar dunkel wird
die ewige nacht
wirft sie uns einen rettungsring zu
hinausziehen
aus der kälte
hinein ins licht

21.01.2022

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als ich aufwachte
war krieg
was gestern noch feststand
lag nun mehr
in trümmern
soll ich zur arbeit?
einfach liegen bleiben?
weghören, wenn die kinder schreien?
mich melden?
oder sachen packen
und vom acker machen?
kapitulieren?

wie haben früher
die leute das geschafft
das sie wussten
wofür es sich
zu kämpfen lohnt

hätten sie nicht gekämpft
wäre ich dann heute
überhaupt aufgewacht?

16.10.2022

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mutter gebar menschen
ihr uterus war
eine finstere höhle
mit feuchten wänden
voller ungewissheit
sie nahmen das licht
erhellten ihr schicksal
sie schaute wohlwollend
aber streng
sie frassen ihre Kinder wie sich selbst
sie war großzügig, aber hart
sie nahmen stein und holz
fügte ihr erste Wunden zu
die anfangs leise schmerzten
doch verheilen werden sie nie
sie holten das eisen
schlugen auf sie ein
sie regte sich und erkannte
das dieses eine kind
anders war
sie feuerten öfen an
schlotte vernebelten ihre schönheit
sie regte sich und wurde wütend
sie bewegte wind und wasser, feuer und erde
damit sie doch vernünftig würden
sie bauten häuser aus stein
sie nahmen die wasser und löschten die feuer
sie fingen den wind
und verbauten die erde
als er damit fertig war
trat er hinaus
und alles was übrig war
waren Inseln umgeben von
vernarbter haut,
totenstille
und er wähnte sich in sicherheit
doch mutter stieß ihn von sich
und begann ihn zu ersticken
nach dem kind
würde nie wieder jemand fragen

18.12.2020

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zahn der zeit
nagt an meinem gewissen
knie ich auf knochen
zu boden gekrochen
was wäre denn was nicht ist
die tür steht stets
zu beiden seiten offen
sich ineinander einzufühlen
nach dem beginn
des roten fadens zu wühlen
auf dieser perlenschnur
aneinandergereiht unsere fehler
führt einer zum nächsten
aus dem zarten pflänzchen
unserer zukunft
sind zahnräder gewachsen
die uns malträtieren
aus dem faden wird
eine schlinge
zieht der zeit
den zahn
der lebenslauf
löst uns auf

29.12.2021

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zwischen schilfhalmen
und einer wilden wiese, unberührt
sitzt sie mit goldenen haaren
der wind scheucht
das salz in der luft
über ihr gesicht
mitten über ihre sanftmütigen wangen
perlt eine träne
stürzt hinab
in das aufgewühlte wasser
eines tiefen sees
sie wäscht ein tuch
das wasser rot
und singt vor sich hin
hinter dem horizont
eines birkenhains
der das ufer säumt
ertönt ein knall
wie ein befehl
sie hält inne
erstarrt
mit all ihren gedanken
er kommt nie mehr
er kommt nie mehr
zurück blickt sie
und wäscht das tuch
das wasser rot
sie spricht mit sich
jetzt ist er tot

24.09.2021